Fritz Steffen

Inhaltsbereich: Rede zur Kunststausstellung von Fritz Steffen «Neue Bilder in der Alten Kentaur»

«Kunst bringt die Welt in Unordnung»

Liebe Gäste, im Namen von Fritz Steffen heisse ich Sie herzlich willkommen zu dieser aussergewöhnlichen Vernissage zur Ausstellung mit «Neuen Bildern in der Alten Kentaur».

Tatsächlich: Es ist eine aussergewöhnliche Ausstellung, und für mich eine aussergewöhnliche Freude, hier zu Ihnen sprechen zu dürfen. 1996 hatte ich diese Ehre zum ersten Mal, damals in der Kulturmühle Lützelflüh.

Lieber Fritz, seither haben wir eine schöne Wegstrecke gemeinsam zurückgelegt: Wir haben bei dir im Atelier über Gott und die Welt philosophiert, über deine Bilder und über Jazz. Wir haben zusammen in der gleichen Band Dixieland gemacht. Wir waren im Marians Jazzroom, am Jazzfestival Bern, an den Jazz Nights Langnau. Wir haben Kunstausstellungen besucht, Museen und Galerien … kannst du dich zum Beispiel noch unsere Reise ins Aarauer Kunsthaus erinnern und an die Ausstellung von Bridget Riley?

Lieber Fritz, dafür bin ich dir dankbar.

Darum freue ich mich umso mehr, hier ein paar Gedanken über die Kunst im Allgemeinen und über die Malerei von Fritz im Speziellen äussern zu dürfen.

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«Kunst bringt die Welt in Unordnung». Dieser Satz ist mir kürzlich irgendwo begegnet — und er soll das Leitmotiv meiner Rede sein, der rote Faden.

Wir können ganz unterschiedlich an diesen Satz heran gehen.

Wir können zum Beispiel die Betonung anschauen. Eine unterschiedliche Betonung ergibt plötzlich eine unterschiedliche Bedeutung, zum Beispiel so:

KUNST bringt die Welt in Unordnung.
Oder:
Kunst bringt die WELT in Unordnung.
Oder:

Kunst bringt die Welt in UNORDNUNG.

Wir können den Satz vom Klang her anschauen: Dann stellen wir fest, dass die ersten fünf Wörter alle einsilbig sind: Kunst — bringt — die — Welt — in … erst das letzte ist mehrsilbig. Das Wort «Unordnung» selber bringt also die schöne, gerade Ordnung der ersten Wörter durcheinander …

So weit, so gut: Interessanter ist es aber schon, den Satz inhaltlich zu analysieren.

«Kunst bringt die Welt in Unordnung».

Kunst, was ist denn das? Bis ins 18. Jahrhundert hinein bezeichnete man mit dem Begriff Kunst generell alle «menschlichen Fertigkeiten», zum Beispiel sprach man auch von Fechtkunst, von Reitkunst, der Kunst des Schachspiels usw.

Heute verstehen wir unter Kunst mehr die «menschlichen Hervorbringungen zum Zwecke der Erbauung» … diese etwas hochgestochene Definition haben wir dem guten Herrn Johann Wolfgang von Goethe zu verdanken.

In Wahrigs Wörterbuch der deutschen Sprache heisst es einfach: «Kunst ist schöpferisch gestaltende Tätigkeit des Menschen». Darunter versteht man heute vorab Theater und Literatur, Musik und Tanz, Malerei, Bildhauerei und Architektur.

Was ist denn die WELT? Ist das ein geografischer Begriff? Ist es der Globus, die Weltkugel? Ist es IHRE Welt oder MEINE Welt? Was mich umgibt? Dort, wo wir leben? Oder ist es eine Gedankenwelt?

Wir sehen, jetzt wirds schon schwieriger.

Und noch schwieriger wirds, wenn wir UNORDNUNG erklären wollen. Klar, Unordnung ist das Antonym von ORDNUNG, das Gegenteil also.

Das hilft uns aber auch nicht viel weiter … heisst Ordnung einfach bloss, dass alles schön aufgeräumt ist? Ist Ordnung das, was alle für richtig halten. Sind es allgemein anerkannte Regeln für unser Verhalten?

Und: Ist denn Ordnung an sich schon etwas Positives? Entsteht nicht aus der Unordnung, aus dem Chaos, wieder Neues, eine neue Ordnung? Und: Sind Unordnung und Ordnung absolute Werte? Oder gibts da auch Modeströmungen?

Lassen wir das also — wir alle verstehen den Satz auch ohne grosse Wissenschaft: «Kunst bringt die Welt in Unordnung.»

Denken wir an den Marquis Posa aus Schillers Don Carlos von 1787. Der Marquis sagt dort zum spanischen König Philipp II.: «Geben Sie Gedankenfreiheit, Sire!» Wir begreifen, wenn die Oberen an solchen Ideen keine Freude haben. Denn freie Gedanken könnten ja die bestehende Ordnung über den Haufen werfen — zum Vorteil des einfachen Volks!

Denken wir an die Maler im 19. Jahrhundert in Paris, an die Impressionisten und ihre Vorläufer. Dort ist Edouard Manets Bild «Déjeuner sur l'Herbe» 1863 von der Académie des Beaux Arts für die Jahresausstellung abgelehnt worden.

Die Herren Professoren bezeichneten das Werk als «schamloses, offensichtliches Ärgernis» — und Manet musste sein Bild im «Salon des Refusés» ausstellen.

Oder als der Jazz aufkam, diese neue Musik, wild und unordentlich, unwiderstehlich und sinnlich. Damals sagte Mr. Henry Van Dyck, Musik-Professor an der Princeton University:

«Beim Jazz handelt es sich meiner Meinung nach überhaupt nicht um Musik. Es ist lediglich eine Reizung der Gehörnerven. Jazz ist eine reine Kakophonie, eine Abfolge unangenehmer Klänge in verworrenen Dissonanzen, eine vorsätzliche Scheusslichkeit und bewusste Vulgarität.»

Denken wir an die Nazis, die alle Kunst verboten, welche nicht ihrer Ordnung entsprach. Ungenehme Bücher wurden öffentlich verbrannt, zeitgenössische Bilder wurden in der Ausstellung «Entartete Kunst» gezeigt — und Künstler wurden verhaftet, kamen ins Gefängnis oder ins KZ.

Oder ganz aktuell: Der Meret Oppenheim Brunnen in Bern — ein wunderbares Beispiel dafür, wie Kunst die Welt in Unordnung bringen kann! Noch heute, fast 25 Jahre nach dem Bau dieses Brunnens, können sich Politiker aufregen, Füdli-, Spiess- und andere Bürger, nur weil der Brunnen scheinbar nicht zur schönen Ordnung der Sandsteinfassaden passt, zu den Geranien und zu den Fahnen in der Altstadt.

Ja, wir merken es: Mit der Unordnung ist es eine ernste Sache. Darum ist es jetzt Zeit, endlich mit der Unordnung Schluss zu machen, Ordnung herzustellen und aufzuräumen, reinen Tisch zu machen. Und die Kunst neu zu ordnen, Platz sparend und übersichtlich!

Ja, wirklich: Es ist bitterer Ernst!

Aber keine Sorge. Einer hat das schon für uns gemacht: Ursus Wehrli hat ein Buch herausgegeben — es heisst «Kunst aufräumen».

Auf seiner Website lesen wir, dass er sich intensiv mit der modernen Kunst befasst habe. Dabei sei er zum Schluss gekommen, dass die Künstler oft gar nicht wüssten, wohin mit all den Farben und Formen. Drum habe er das für sie nun gemacht …

Übrigens, lesen wir weiter auf der Homepage, sei das Buch in jeder anständigen Buchhandlung zu kaufen. Das sind dann wohl auch die mit der schönen Ordnung …

Es ist schon klar, die Idee von Ursus Wehrli ist nicht so ganz ernst gemeint. Oder vielleicht doch?

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Eines aber ist sicher: Fritz Steffen weiss ganz bestimmt, wohin er mit seinen Farben und Formen soll!

Er gibt den Farben die Chance, miteinander zu kämpfen, sich gegeneinander durchzusetzen. Er will wissen, wie sie wirken, wenn sie im Zentrum eines Bildes sind oder eher am Rand. Er redet mit ihnen, wie er mir gesagt hat — obschon sie ihm nicht antworten. Und auch wenn die Farben nichts sagen können: Ein Bild lasse sich dann keineswegs alles gefallen!

Fritz Steffen sucht die grosse Fläche, wie sie auch die Color Field Painters gerne haben, etwa Mark Rothko.

Aber er malt sie nicht einfach gleichmässig, monochrom, quasi «üni». Seine Flächen setzen sich zusammen aus unzähligen feinen Punkten und Flecken, aus Strichen und Linien, in verschiedenen Farben, aufgetragen in vielen Schichten … das können durchaus zwanzig oder mehr sein, hat er mir verraten.

Das gibt ihnen diese eigenartige Struktur, dieses besondere Vibrieren, diesen unvergleichlichen Swing.

Aber: Wir wissen es. Fritz Steffen hat mit grafischen Techniken angefangen, mit Lithos und Radierungen, mit Kohle, Bleistift und Feder. Und diese Liebe zum Strich, die lebt noch immer in ihm — und die kommt auch auf seinen Bildern zu ihrem Recht.

Immer gibt es irgendwo grafische Elemente und geheimnisvolle Figuren, hintergründige Symbole und irritierende Zeichen. Und die bringen dann die schöne Ordnung der Flächen in Unordnung — schaffen neue Spannungen und Überraschungen.

Und damit sind wir wieder beim Stichwort Unordnung … Bringt denn auch die Kunst von Fritz Steffen die Welt in Unordnung, unsere Welt, unser Leben?

Natürlich: Weil wir uns mit seinen Bilder auseinander setzen müssen, weil wir uns auf sie einlassen müssen.

Sie bringen Unordnung, weil sie nirgends in ein Clichée hinein passen und in keine Schublade, in keine Stilrichtung und keine Ordnung: Sie sind eben besonders, eigenständig und einmalig — einfach Stäffefritzes Bilder.

Sie bringen Unordnung, weil wir beim Betrachten seiner Bilder manchmal auch an seine Krankheit denken müssen, die seine Welt in Unordnung gebracht hat — und dann merken wir, dass auch unsere Welt plötzlich in Unordnung geraten könnte.

Sie bringen Unordnung, weil wir uns einfach in sie verlieben, an jeder Ausstellung ein Bild kaufen — und dann nicht wissen, wo wir es zu Hause aufhängen sollen, ohne die bestehende Ordnung durcheinander zu bringen.

Und letzten Sonntag hat eines seiner Bilder bei uns zu Hause noch ganz andere Unordnung gebracht: Ein Dübel hat sich aus der Wand gelöst — und das Bild (immerhin ein Meter auf einen Meter) ist mit einem riesigen Knall auf den Boden gekracht. Zum Glück hat nur der Rahmen Schaden genommen …

Und trotz allem: Nebst der Unordnung, die mit ihnen verbunden ist, haben Fritzens Bilder eine ganz besondere Harmonie, eine eigenartige Ruhe, Gelassenheit und Heiterkeit. Ja, auch eine Ordnung!

Ich habe mit ihm schon oft über seine Arbeit gesprochen, über seine Kunst, seine Bilder. Aber meistens hat er eigentlich dann doch nichts dazu gesagt. Er hat einfach geantwortet: Die Bilder sollen selber reden.

Dazu haben wir ja jetzt Zeit. Nehmen wir uns die Zeit, seine Bilder nicht nur zu betrachten, nein, hören wir ihnen auch zu:

Dann kommen wir vielleicht dem Rätsel auf die Spur, was das «Drehmoment» vom «Drehmomentan» unterscheidet, was vom «Grossen Drehmoment».

Dann entdecken wir bestimmt die Geschichte, die hinter dem «Löwenherz» steht.

Dann verstehen wir, warum auf dem Bild Nummer 12 das Ultramarin «fahl» ist.

Und dann hören wir die Melodien hinter dem «Sensation Rag», hinter dem «Andante», hinter dem «Tremolo».

Wir sehen es: Verschiedene seiner Bilder haben musikalische Titel. Musik spielte im Leben von Fritz Steffen immer ein wichtige Rolle, auch heute während der Vernissage – und es gibt ja dann im Verlauf der nächsten Zeit noch zwei Konzerte in der alten Kentaur: So wird die Ausstellung zu einem eigentlichen Kultur-Event.

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Liebe Gäste, liege ich richtig, wenn ich Sie als ein besonderes Publikum einschätze?

Nicht so versnobt, gewöhnlich und passiv wie das normale Vernissagen-Cüpli-Smalltalk-Publikum? Ja?

Also sind Sie bereit, miteinander einen künstlerischen Beitrag an diese Vernissage zu leisten? Quasi eine Performance für Fritz? Ja?

Dann versuchen wirs also: Kommen wir zurück auf den Satz «Kunst bringt die Welt in Unordnung».

Wir bilden vier Gruppen — auf mein Zeichen hin sagt die

1. Gruppe: «Kunst».
die 2. «Kunst bringt die Welt»,
die 3. «die Welt» und
die 4. «in Unordnung» …

Und dann lassen Sie sich zu einem abwechselnden Sprechgesang dirigieren, etwa so: Kunst — Kunst — Kunst bringt die Welt — die Welt — in Unordnung — in Unordnung — Kunst bringt die Welt — Kunst — die Welt — in Unordnung …

Zum Schluss alle miteinander … damits wirklich wieder eine schöne Unordnung gibt!

Sehr gut, vielen Dank!

Lieber Fritz, diese kleine Performance ist unser aller Geschenk an deine Ausstellung.

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Die grosse dunkelhäutige Sopranistin Jessye Norman hat einmal gesagt: «Ich finde, wir sind verpflichtet, die Kunst in all ihren Formen zu erforschen» … Recht hat sie: Und darum lade ich Sie nun ein, dies zu tun.

Doch halt: Ganz zum Schluss möchte ich noch kurz Ernst Barlach zitieren, den deutschen Bildhauer, Grafiker und Schriftsteller. Ernst Barlach lebte von 1870 bis 1938 und war Mitglied der «Berliner Secession», einer Vereinigung wichtiger Avant-Garde-Künstler um die Jahrhundertwende.

1937 haben die Nazis über 350 seiner Werken beschlagnahmt und einzelne in der Ausstellung «Entartete Kunst» gezeigt: Weil seine Skulpturen eben nicht in die nationalsozialistische Ordnung passten.

Ernst Barlach hat einen wunderbaren Satz gesagt: «Zu jeder Kunst gehören zwei: Einer, der sie macht, und einer, der sie braucht!»

Fritz, wir sind dir dankbar, dass du sie machst. Denn wir brauchen sie!

Werner Eichenberger, Vernissage vom 1. September 2006

Informationen über diese Website

Fritz Steffen · Mühlebachweg 12 · CH-3452 Grünenmatt
Telefon: +41 34 461 15 17 · E-Mail: fritz_art (at) gmx (punkt) ch